VERLORENE FORMEN – Fragment
Margit Berner, Britta Lange, Thomas Schelper, Kerstin Stoll: Ganzkörperabformung und Herstellung einer Gipsfigur, aktuelles Abformverfahren

Beitrag zum Symposium "Casting. Ein analoger Weg ins Zeitalter der Digitalisierung?"

casting.pdf

Negativformen des N'KURUI
Fotos, Gipsformerei, Berlin, 2018

verlorene-formen.pdf

Textbeitrag im Ausstellungskatalog »Nah am Leben – 200 Jahre Gipsformerei«. S. 94-95

VERLORENE FORMEN
Die »verlorenen Formen« bilden ein Zwischenstadium: jene ersten Negative von einem Körper, aus denen dann das erste Positiv gegossen wird. Sie zeigen den Körper als negativen Eindruck, aber je länger man hineinschaut oder je besser man hineinfotografiert, desto mehr scheint daraus zugleich das Positiv zu entstehen. Das Abbild wölbt sich aus der Negativform, und im nächsten Moment verschwindet es wieder – ein ständiger Wechsel zwischen konkav und konvex, erhaben und vertieft, schwarz und weiß, je nach Standpunkt. Aus den negativen Eindrücken der Finger scheinen diese plastisch hervorzutreten, insbesondere, wenn das fotografische Positiv in sein Negativ verkehrt wird. Dies erinnert an Bilder des Pseudoskops, eines optischen Instruments aus dem 19. Jahrhundert, das die Tiefenwahrnehmung umkehrt und dadurch etwas zu sehen gibt, was sonst nicht zu sehen ist. So erzeugt es das Positiv eines Negativs oder umgekehrt. Durch entkreuzte Blicke des rechten und linken Auges dreht sich scheinbar das Innen aus dem Negativ heraus – INSIDE OUT. Heute wird der CT-Scanner, ein weiteres Instrument zur Sichtbarmachung des Verborgenen vielfach für Abformungen genutzt. Er tastet ein Objekt Schicht um Schicht mit dem Röntgenstrahl ab. Mit den erhaltenen Daten lässt sich ein digitales 3D-Modell des gescannten Objekts konstruieren: Das Innere wird nach außen gewölbt.
Die ersten Negative einer Abformung heißen »verlorene Formen«, denn sie gehen bei der Herstellung des Positivs verloren. Sie sind also nur Übergangsmedien, damit vom ersten Positiv bleibende Negative angefertigt werden können. Die zweite Form, die anhand des Positivs gewonnen wird, ist hingegen beständig und dokumentiert die Vergangenheit für die Zukunft. Mit den Negativformen der zweiten Generation, den bleibenden Stückformen, lassen sich beliebig viele Positive herstellen und in die Welt schicken. Somit hat nur die verlorene Form den abgegossenen Körper unmittelbar berührt und zeigt Kontaktspuren. Dieser Kontakt besteht etwa zwanzig Minuten, so lange, bis der Gips ausgehärtet ist. In dieser Zeit wird das kalte, nasse und schwere Material warm, trocken und leicht. Der abgeformte Körper reagiert darauf. Dieser zeitliche Verlauf lässt sich an den ersten Formen noch ablesen.
Die »verlorenen Formen« von N’Kurui und somit alle direkten Spuren seiner Gestalt und des Aktes der Herstellung sind tatsächlich verloren. Wir können sie uns nur noch vorstellen: als materielle Erinnerung an den Prozess des Abgießens, der lange dauerte und eine komplexe soziale Situation zwischen Wissenschaftlern als den Kolonisierenden und den Kolonisierten herstellte, in der auf vielfache Weise kommuniziert werden musste. Die Kontaktspuren von N’Kuruis Körpers sind zwar an manchen Stellen in den Negativformen der zweiten Generation noch zu erkennen, doch sind die meisten Stellen retuschiert worden und wirken deshalb glatt. Sie scheinen auch als eine Metapher für die Verstellung und Verwischung der Person N’Kuruis, für Fragen, die sich zuallererst an die verlorene Form richten lassen: Wer war er, wo kam er her? War er allein, war seine Familie bei ihm? Wie hat er mit den Weißen gesprochen? Wie wurde er von von Luschan und dessen Frau überredet, den Abguss machen zu lassen? Wurde ihm das Ziel der Wissenschaftler erklärt? Wie hat er darüber gedacht? Was hat es für ihn bedeutet, abgeformt zu werden?
Nach der Ganzkörperabformung, die wir 2013 im Selbstversuch angefertigt haben, stellten wir fest, dass man beim Ausgießen an den Übergängen von einem Formteil zum anderen eine Naht erhält und dass es überdies schwierig ist, die Formteile beim Montieren passgenau zusammenzusetzen. Auch von Luschan sah sich bereits mit dieser Problematik konfrontiert: »Die Fertigstellung stiess hier auf nicht unbedeutende Schwierigkeiten, da einzelne Formstücke nicht gut zu einander passten und ich doch jeden künstlichen oder künstlerischen Eingriff durchaus und um jeden Preis vermeiden wollte. Es lag mir daran, ein absolut authentisches und völlig einwandfreies Modell zu schaffen und das ist nun erst nach vieler Mühe möglich geworden.«1 Für uns hat die Herstellung des Ganzkörperabgusses gezeigt, dass am Positiv gesägt, montiert, vermittelt, geklebt und geschliffen werden muss, und dass dabei auch Vorstellungen und Ideale eines Körpers eine Rolle spielen. Es steckt Fiktion darin.
KS

1 Schreiben von Luschans an von Dessauer vom 23.11.1906 mit Bezug auf die für Johannesburg erstellte Version, 1906; Staatliche Museen zu Berlin, Ethnologisches Museum, Archivalien, Ident. Nr. E 252/1906, Aktenbezug I B 36, Afrika. 9594.

INSIDE OUT
Zwei Fotos eines Gipsfragments der Verlorenen Form einer Ganzkörperabformung, 30 x 40 cm, 2013/2019

VERLORENE FORM
Fotos, 2013

N'KURUI UND SEINE KOPIEN. (Post)koloniale Geschichten.
Filmcollage, 5 min., 2020

VERLORENE FORM
Foto, 2013